Alkohol und Gewaltsites (2024)

Sein letzter Rektor beschreibt Mike P. als höflichen Schüler, bei dem eine positive Entwicklung zu erwarten war. Anderseits hatte der 16-Jährige ein Faible für Gewalt und Alkohol.

Mike P. streitet die Tat zwar noch ab, entschuldigte sich aber über seinen Anwalt Herbert Hedrich bei den Opfern und deren Angehörigen. Doch sein Mandant, so der Berliner Strafverteidiger, stehe noch unter Schock und habe „nicht realisiert, was man ihm vorwirft“. Nämlich 24-fachen versuchten Mord und Körperverletzung.

Rektor erwartete „positive Entwicklung“

Deshalb sitzt der Junge aus Berlin-Neukölln jetzt in U-Haft statt in der Schule. Mit 16 Jahren hat er noch keinen Hauptschulabschluss. In seiner achten Klasse war Mike der Älteste. Zweimal war er sitzengeblieben – einmal schon in der Grundschule.

Im vergangenen Schuljahr besuchte er die Johann-Thienemann-Hauptschule im Bezirk Steglitz. In einer anderen Hauptschule hatte er zuvor Lehrer beleidigt und eine Scheibe eingeworfen. Der Junge sollte aus seinem gewohnten Umfeld herausgenommen werden, um ihm in seiner Entwicklung zu helfen.

Mike habe ausgesprochen „höfliche Umgangsformen“ gezeigt, erinnert sein letzter Rektor Olaf Garcke an das Eingangsgespräch. „Ich hatte eine positive Entwicklung erwartet,“ sagte er zu FOCUS Online. Mike fügte sich gut ein, schien die Lehrer zu respektieren. Doch dann schwänzte er immer häufiger, 30 bis 40 Tage, schätzt Garcke. Dazu musste er ihm kurz vor Ostern ein Butterflymesser abnehmen, mit dem Mike bei Mitschülern angegeben hatte. Daher habe er mit dem Jugendlichen und seinem Vater die Teilnahme an einem speziellen Schulschwänzer-Projekt vereinbart, das für Mike eigentlich am Montag beginnen sollte.

Internet-Gewalt und Alkohol

„Er besuchte auch eine Gewaltseite im Internet“, sagt Garcke, der ihn daher auch noch in einem Anti-Gewalt-Seminar unterbringen wollte. Das scheiterte, weil es keine freien Plätze gab. Mit Drogen war Mike nicht aufgefallen. Auch sei er niemals mit Alkoholfahne zur Schule gekommen.

Dennoch habe der Jugendliche sich wahrscheinlich „wie viele andere auch“, so Garcke, am Wochenende betrunken. Unter Alkoholeinfluss habe er auch schon „mehrfach aggressiv reagiert“, sagt Klaus Ruckschnat, Chef der ermittelnden Mordkommission.

Überforderter Vater

Der Vater war mit den drei Kindern, die er nach der Scheidung alleine großziehen musste, „wahrscheinlich überfordert“, vermutet Schulleiter Garcke. Dabei komme der Amokläufer „eigentlich aus relativ guten Verhältnissen“, so der Pädagoge. Mikes Vater arbeitet bei den Wasserbetrieben. Laut Polizei tat er auch alles, „um seine Kinder zu erziehen und darauf einzuwirken, daß sie auf dem rechten Weg bleiben“.

Suche nach dem Motiv

Bei Mike hat es nicht funktioniert. Das Motiv für den Amoklauf bleibt weiter rätselhaft. Man müsse es „individuell rekonstruieren“, so der Berliner FU-Professor Herbert Scheithauer zu FOCUS Online. Gewaltfantasien oder bestimmte Verlusterlebnisse könnten dazu geführt haben. Der Entwicklungspsychologe forscht bei Jugendlichen nach seelischen Rastern, um Frühwarnsysteme zu entwickeln. Eher sehr „trivial“ erscheint Isabella Heuser der Anlass für den Amoklauf: „Er hatte schlechte Emotionen und enthemmte sich durch Alkoholgenuss“, sagt die Leiterin der Psychiatrie des Charité-Campus Benjamin Franklin.

Damit wird das Geschehen kaum fassbarer. Auch Mike P., der laut Polizei-Vize Gerd Neubeck „keine kriminelle Karriere“ hinter sich hat, findet keine Erklärung. Er sei „im Vollrausch gewesen“ und „kann sich wirklich nicht an die Tat erinnern“, sagt sein Anwalt Herbert Hedrich. Laut Staatsanwaltschaft war der 16-Jährige „deutlich, aber nicht extrem hoch“ alkoholisiert. Wie weit sich die rund 1,4 Promille auf die Tat auswirkten, müssen Gutachter klären.

Hilflose Politik

Berlins Innensenator Ehrhardt Körting (SPD) hatte sich schon am Sonnabend beeilt, das Geschehen als für die Hauptstadt „atypische Tat“ einzuordnen. Andere verwiesen auf die sich scheinbar häufenden Fälle exzessiver Gewalt und brachten die Sicherheit der bevorstehenden Fußball-WM wieder ins Spiel. Der Amoklauf sei ein „singuläres Ereignis“, entgegnete Körting, auch bei anderen Großereignissen wie der Love Parade könne man „ohne Angst und Schrecken herumlaufen“. Alle Risiken könne man „nur in einer Militärdiktatur ausschließen“.

Ähnlich sieht das Opfer Frank Klindworth: „Das kann einem überall passieren.“ Und Mike P. tut ihm sogar Leid: „Der Junge hat sich doch seine ganze Zukunft versaut.“

Wenn Klindworth von der Einweihung des neuen Berliner Hauptbahnhofs erzählt, ist er immer noch begeistert. „Zwei Züge mit riesigen Lichtkegeln fuhren entgegengesetzt ein. Wirklich toll.“ Gut gelaunt hatte sich der 46-Jährige vorigen Freitag nach dem Spektakel mit seiner Frau Gisela die Spree entlang auf den Heimweg gemacht.

Blutlauf durch die Menschenmenge

Doch um 23.30 Uhr, gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio, wurden die Klindworths in ein unheimliches Geschehen hineingezogen. Ohne es gleich zu begreifen. Ein junger Mann rannte dicht vorbei, durch die von der Bahnhofsfeier abfließenden Menschenmassen. „Ich spürte einen leichten Schmerz im Rücken, dachte, er hätte mich angerempelt“, sagt der kräftige Ex-Footballspieler. Doch dann: überall aufgeregte Rufe. „Es musste etwas passiert sein. Und jetzt bemerkte meine Frau auch Blut an meiner Jacke. Dann fühlte ich es bis zu den Beinen hinunterlaufen.“ Die Ärzte versorgten später eine zwei Zentimeter tiefe und vier Zentimeter breite Schnittwunde.

Als Mike P. auf Klindworth einstach, hatte er bereits ein Drittel seines blutigen Parcours zurückgelegt. Der weiß gekleidete Täter rannte durch das Regierungsviertel, stach 33 Menschen wahllos von vorn oder von hinten in den Oberkörper oder das Gesäß, „zum Teil in Sekundenfolge“, so Ermittler Ruckschnat. Bei acht weiteren Opfern drang das Butterfly-Messer nicht durch die Kleidung. Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma sahen, als er am Ufer nahe dem Hauptbahnhof einer Frau in den Bauch schlug und hielten ihn fest. Während der Festnahme durch die Polizei lief die Rettungsaktion schon auf vollen Touren. Einem Mann musste per Notoperation das Leben gerettet werden.

Opfer brechen zusammen, der Täter sticht weiter zu

Wie konnte der Amokläufer 16 Minuten durch die Menge laufen und seine Serienangriffe ungestört fortführen? „Die Menschen haben die Situation nicht realisiert“, erklärt Heuser von der Charité, „daher sind sie auch nicht geflüchtet.“ Messerattacken blieben, anders als etwa Schüsse, unbemerkt, sagte sie FOCUS Online. Die schwerer Verletzten hätten durch ihren Zusammenbruch die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, ein „natürlicher Reflex, zunächst dem Opfer zu helfen“. Gerade dadurch habe Mike P. weiter laufen „und 20 Meter entfernt schon wieder zustechen“ können. Dazu hätten etliche die Verletzungen zunächst nicht bemerkt. „Ein Messerstich ist nicht sofort sehr schmerzhaft“, so die Ärztin.

Angst vor Aids und Trauma

Tatsächlich meldeten sich einige, von Mike P. auf seinem wahnwitzigen Lauf nur leicht erwischt, erst zwei Tage später – aufgeschreckt davon, dass eines der ersten Opfer HIV-positiv ist. Auch Klindworth treibt jetzt Aidsangst um. Experten der Charité schätzen die Gefahr als relativ gering ein. Sicherheitshalber wurden aber außer den Opfern alle beteiligten Sanitäter und Polizisten vorbeugend gegen eine Infektion mit dem Aids-Erreger behandelt. Doch erst in sechs Monaten haben sie Gewissheit, dass das Virus sich nicht in ihren Körper eingenistet hat.

Seelische Spätfolgen, „posttraumatische Belastungsstörungen“ wie „irrationale Ängste vor Menschenansammlungen oder Bus- und Bahnfahrten“ wird indes nur jedes siebte Opfer erleiden, vermutet Psychiaterin Heuser.

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